Wissenschaftlicher Hintergrund
Vom Gen zum Problem.
Dass Arzneimittel nicht bei allen Menschen gleich gut wirken, dass manche Patienten über mehr Nebenwirkungen klagen als andere, ist für Sie als Arzt nichts neues. Doch woher stammen diese Unterschiede? Welchen Einflüssen unterliegt der Stoffwechsel, dass Menschen so verschieden auf Therapien reagieren?
Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2001 wurden enorme Hoffnungen geweckt, solche Unterschiede zukünftig vollständig verstehen und somit maßgeschneiderte Therapien ermöglichen zu können. Auf die Euphorie folgte zunächst Ernüchterung, denn maßgeschneiderte Therapien konnte auch ein vollständig ausgelesener genetischer Code nicht herbeizaubern.
Dennoch eröffnete die Kenntnis des Genoms der Forschung völlig neue Möglichkeiten, das Verhalten von Wirkstoffen unter dem Einfluss von genetischen Variationen zu untersuchen. Heute verstehen wir die molekularen Abläufe bereits so gut, dass für viele Wirkstoffe eine Vorhersage der Wirksam- und Verträglichkeit in Abhängigkeit des genetischen Codes möglich ist. Und das ist erst der Anfang. Wir lernen täglich dazu.
Das heutige Verständnis der Pharmakogenetik möchten wir Ihnen in den folgenden Abschnitten näherbringen.
Mehr anzeigenGendiagnostik: von der Prädiktion zur Prävention.
Die prädiktive Gendiagnostik wird bislang hauptsächlich zur Früherkennung erblich bedingter Krankheiten eingesetzt. Die gleiche Technik, die Analyse entscheidender genetischer Variationen, kann heute auch präventiv im Bereich Arzneimittelwirksamkeit/-verträglichkeit eingesetzt werden. Denn therapierelevante Mutationen werden ebenso wie krankheitsverursachende ererbt, sind daher in allen Zellen vorhanden und folglich auch aus allen Zellen (so auch aus einer Mundschleimhautprobe) nachweisbar.
Verfolgt man den Weg eines Arzneimittels nach Aufnahme in den Körper, so wird der Wirkstoff direkt mit dem ADME-System (Absorption, Distribution, Metabolism, Excretion) konfrontiert. Dieses System enthält Proteine, die die Absorption, die Verteilung, den Metabolismus und die Sekretion des Wirkstoffs bestimmen. Aus dem Zusammenspiel all dieser Komponenten resultiert eine zu einer bestimmten Zeit gegebene Wirkstoffkonzentration, die am richtigen Ort mit der Zielstruktur interagiert, die ihrerseits mit weiteren Interaktionspartnern in Wechselwirkung treten kann, woraus sich Wirkungen und Nebenwirkungen ergeben.
Alle diese direkten und indirekten Zielstrukturen für ein Arzneimittel werden von Genen kodiert, die Mutationen tragen und hierdurch von der Norm abweichende Reaktionen nach Kontakt mit dem Wirkstoff zeigen können. Finden sich Mutationen in Genen, die für Komponenten des ADME-Systems kodieren, führt dies zu pharmakokinetischen Unregelmäßigkeiten. Beim Vorliegen relevanter Mutationen bei den direkten und indirekten Zielstrukturen für einen Wirkstoff resultieren pharmakodynamische Konsequenzen. Beides kann klinisch hoch relevant sein und hat mit der eigentlichen Krankheit, die bei einem Patienten behandelt werden soll, nichts zu tun.
Mehr anzeigenBei den Phase-I und Phase-II-Enzymen unterscheidet man vier Metabolisierungstypen.
Die Enzyme der Phase-I- und Phase-II-Metabolisierung – dies sind vor allem die Cytochrom-P450-Isoenzyme (CYPs) und Enzyme wie N-Acetyltransferase (NAT), Thiopurin-Methyltransferase (TPMT), Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPYD) und andere – sind pharmakogenetisch besonders relevant, da sie die Kinetik zahlreicher Medikamente beeinflussen.
Die aktive Gendosis, d.h. die Zahl der Gene, die für ein aktives Metabolisierungsenzym kodieren, ist im Allgemeinen proportional zur jeweiligen Metabolisierungsrate. Der Normalfall ist gegeben, wenn je eine intakte Genkopie für ein aktives Enzym auf den beiden homologen Chromosomen vorliegt. Eine Person mit zwei intakten Genkopien bezeichnet man als Extensive Metabolizer (EM).
Ist eine der beiden Genkopien dahingehend mutiert, dass dieses Gen ein inaktives Enzym kodiert, sprechen wir von einem Intermediate Metabolizer (IM). Sind beide Genkopien mutiert, resultiert daraus der Poor Metabolizer (PM)-Phänotyp. Schließlich kann es vorkommen, dass eine Genkopie dupliziert oder auch amplifiziert wurde. Dann spricht man von einem Ultrarapid Metabolizer (UM).
Ein Prodrug wird von diesen Enzymen aktiviert. Bei einem Patienten des UM-Phänotyps wird der aktive Metabolit somit im Übermaß gebildet, die Dosis muss reduziert werden. Entsprechend benötigt ein Patient des IM-Phänotyp eine Dosierhöhung. Bei PM-Status kann es sogar sein, dass selbst eine deutlich erhöhte Dosis nicht zu ausreichender Bildung des aktiven Wirkstoffs führt. In diesem Fall muss eine Alternativmedikation in Betracht gezogen werden.
Umgekehrt verhält es sich, wenn ein aktiver Wirkstoff verabreicht wird, der von den Phase-I und Phase-II-Enzymen inaktiviert und für die Ausscheidung vorbereitet wird. Hier muss bei Vorliegen eines IM bzw. PM-Phänotyps die Dosis reduziert, bei Vorliegen eines UM-Phänotyps die Dosis erhöht werden.
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